SICHER IST SICHER
DER ERSTE FEIND, OLIVIER CHIACCHIARI ZU SICHER IST SICHER Masseneinwanderung, Börsenkrach, die Wissenschaft auf Abwegen, Terrorangriffe, Naturkatastrophen, nukleare Unfälle, allgemeine Pandämie, dritter Weltkrieg, die Apokalypse steht bevor! Woher stammen all diese Ängste? Wer schürt sie? Und wem nützen sie? Man kann drei Arten von Angst unterscheiden: 1. Angst, die real ist und uns ein Handeln erlaubt. 2. Angst, die real ist und uns kein Handeln erlaubt. 3. Angst, die wir für real halten, die es aber nicht ist. Diese dritte Kategorie ist es, die mich fasziniert, erstens weil sie dazu neigt, sich immer weiter auszubreiten, und zweitens weil sie für einen Dramatiker wie mich ein weites Feld des Ausdrucks bietet. Unsere Ängste wandeln sich und wachsen je nach der Haltung der Herrschenden, den Fluktuationen des Weltmarktes, dem Medienhype, aber auch wegen unserer natürlichen Neigung zur Paranoia. Zwar ist die Angst manchmal real, viel öfter aber ist sie virtuell. Und in diesem Fall sollte die Angst nicht über die Vernunft siegen. Je mehr man Situationen dramatisiert, desto mehr stigmatisiert man das Gegenüber und macht es zum Gegner, zum Feind, zum Angreifer, den es zu neutralisieren gilt, bevor er uns neutralisiert. Und dann verwandelt die Angst ein einfaches Missverständnis in ein Blutbad. Es heißt, der Zorn sei eine Todsünde, weil das Unglück, das er bewirkt, oft viel schlimmer ist als das Unglück, das ihn ausgelöst hat. Gilt nicht das Gleiche für die Angst? Die Angst rechtfertigt alles und jedes, und während sie rechtfertigt, bläst sie auf. Das Recht zu flüchten und das Recht anzugreifen. Das Recht zu kriechen und das Recht zu massakrieren. In einem Fall wie dem anderen schafft man eine Rhetorik, um sich selbst zu beweisen, dass es keine andere Form des Handelns gegeben habe. Die Angst ist unser erster Feind und unsere ultimative Grenze. Sie verhindert die Begegnung, blockiert das Zuhören, macht die Anteilnahme unmöglich. Eine Angst, die wegfällt, ist ein Stück gewonnener Freiheit. Für die Nationen, die Völker und die Individuen. Eine gewonnene Freiheit und eine Drohung, die erlischt. Setzen wir also darauf, dass die Welt an dem Tag ein bisschen sicherer sein wird, an dem die Menschheit ein bisschen weniger Angst haben werden ... Die Idee zu La Rixe (Die Zauderer) ist mir während des Bosnien-Kriegs gekommen. Während die Ansätze zum Völkermord und die schlimmsten Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung grassierten, beschränkte sich der Sicherheitsrat der UNO darauf, Beobachter und Blauhelme zu entsenden. Um diese sinn- und wirkungslose Intervention zu vertreten, folgte eine feierliche Resolution auf die andere. Trotz der perfekten Rhetorik enthüllten diese Resolutionen die Angst, sich in den Konflikt einzumischen. Eine internationale Feigheit, die lächerlich gewesen wäre, hätte sie nicht tausende unschuldiger Opfer betroffen. Prudence (Die Angstbeisser) wurde für das Stadttheater Bern zum Thema „Fremde“ geschrieben. Ziel dieser Fabel ist es, uns in Erinnerung zu rufen, dass wir – irgendwann, irgendwie – alle Fremde sind. Im eigenen Land, in der eigenen Stadt ist keiner von uns davor gefeit, nicht verstanden zu werden. Und so schürt das Nichtverstehen die Vorurteile, die Vorurteile schüren die Angst und die Angst schürt den Konflikt. Und wenn einander die Menschen aus nichtigen Gründen attackieren, blind vor Angst und Vorurteilen, laufen sie Gefahr, manipuliert zu werden von den Ausbeutern der Paranoia, die keinerlei Hemmungen haben, daraus ein Maximum an Profit zu ziehen. Olivier Chiacchiari, September 2010