Grooming
- Paco Bezerra
Deutsch von Franziska Muche - Theater Drachengasse
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30. Oktober – 25. November 2017
Di-Sa um 20 Uhr
Wenn man sich die Welt von heute so ansieht, hast du eigentlich sogar Glück gehabt mit mir.
Ein Mädchen und ein Mann auf einer Parkbank. Er redet, sie schweigt. Er redet auf sie ein. Sie schaut starr geradeaus. Bis er sie auffordert, ihm die Schuhbänder zu binden. Sie tut es und will gehen. Das aber ist gegen die Vereinbarung, die er mit ihr im Chat getroffen hat. Ein kleiner Gefallen noch und dann. Sie erfüllt ihn zwischen seinen Beinen und will gehen. Doch warum lässt sie sich nicht von ihm heimbringen? Vertraut sie ihm denn nicht?
Das Mädchen scheint die schlechteren Karten in der Hand zu haben, bis es zur Explosion kommt, und der Mann mit neuen Wirklichkeiten konfrontiert wird. Was, wenn nun er nicht mehr davonlaufen kann? Weder vor den Informationen über ihn noch vor den sexuellen Forderungen der jungen Frau. Sie können sich doch bestimmt einigen. Was aber, wenn nicht?
Regie: Esther Muschol
Bühne, Kostüm: Ágnes Hamvas
Musik: Rupert Derschmidt
Assistenz: Carmen Jelovcan
Es spielen: Christoph Kail, Maria Strauss
Rechte Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH Berlin
Hörbeispiel
Wir nehmen mit unserer Eigenproduktion Grooming an der Europäischen Theaternacht teil.
"Pay as you wish/can" am 18.11.2017, das heißt, jede*r Besucher*in bezahlt, soviel sie/er ausgeben kann und möchte.
Das Theater Drachengasse zeigt "Grooming" von Paco Bezerra.
Es gibt Stücke, die sollte man nicht im Detail beschreiben, sonst raubt man ihnen den Kern und dem Publikum eine Erfahrung. "Grooming" des Madrider Autors Paco Bezerra gehört dazu. Nicht einmal, ob es ein Thriller, ein Problemstück oder eine surreale Sexfantasie ist, sollte man vorab final klären. Fest steht: Esther Muschol hat den 2008 entstandenen Text im Theater Drachengasse zur österreichischen Erstaufführung gebracht.
Los geht es mit einer jungen Frau und einem älteren Mann auf zwei Spielplatz-Schaukeln über einem leicht verspiegelten Bühnenboden. Perversion liegt in der Luft. Zunächst redet er unablässig, während sie verschüchtert dasitzt und sich einmal eher hilflos beschwert: "Sie sind gar nicht 16." Soweit alles klar, denkt man, denn Grooming ist ja der Fachausdruck für die sexuelle Anbahnung Erwachsener an Kinder und Jugendliche, insbesondere im Internet. Sogar der bisherige Chatverlauf zwischen den beiden wird zu Musik von Rupert Derschmidt eingeblendet. Vielgespielte Aufklärungsstücke für Jugendliche, etwa "Netboy" von Petra Wüllenweber, können einem in den Sinn kommen.
Viele offene Fragen
Doch schon bald runzelt man die Stirn: Warum lässt sich das Mädchen - Carolina_16 nannte es sich im Chat - so viel gefallen? Warum flackert immer wieder das Scheinwerferlicht über der Bühne? Und wird die riesige Schwarzweiß-Wandzeichnung im Hintergrund, eindeutig dem Film "Alice im Wunderland" nachempfunden, noch eine Rolle spielen? Zu sehen sind darauf die Beine eines Mädchens im Rock, das auf einer Wiese sitzt, und mehrere Häschen, die in Löcher hoppeln (Ausstattung: Ágnes Hamvas).
Die Haken, die die Handlung in gerade einmal 60 Minuten dann noch schlägt, bieten kein Aha-Erlebnis, eher vertiefen sie die Stirnfalten. Genau seine Ambivalenz rettet dem sprachlich sehr simplen Text aber die Daseinsberechtigung. Auch Esther Muschols konzentrierte Regie und die intensive Leistung des Darstellerduos Maria Strauss und Christoph Kail tragen dazu dabei, dass der Zuschauer bereit ist, dem weißen Kaninchen immer tiefer in seinen Bau zu folgen.
Das schien auch der in seiner Heimat Spanien preisgekrönte Autor Paco Bezarro, Jahrgang 1978, so zu sehen. Er wohnte der Premiere bei und applaudierte am vehementesten.
Wiener Zeitung, 2.11.2017
"Grooming": Abends auf dem Spielplatz
Das Theater Drachengasse inszeniert erstmals in Österreich das Stück des spanischen Dramatikers Paco Bezerra
Wien – Die sexuelle Lust ist ein weites Spielfeld. Sie kennt Freuden wie jene, sich unauffällig an Fremden zu reiben oder vor einem Arzt auszuziehen. Sie weiß zuweilen auch besonders exquisite Reize wie Pflanzen oder Zähne zu schätzen. Im Theater Drachengasse werden aktuell noch einige Leidenschaften mehr vorgestellt. Auch das bedrohliche Anmachen Minderjähriger, in seiner Ausprägung im Zeitalter neuer Medien Grooming genannt.
Etliche Wendungen
Letzteres führt auf einem Spielplatz eines Abends Leonardo (Christoph Kail) und Carolina (Maria Strauss) zusammen. Sie baumeln auf zwei Schaukeln. Beide sind nicht, was sie vorgeben zu sein. Er ist kein Künstlertyp und keine 16, sondern heißt Lutz. Und sie wäre darüber schockierter, hätte sie das nicht bereits gewusst. Denn die Undercover-Polizistin forscht Pädophile aus. "Sexuelle Belästigung von Kindern" – warum nennt man es nicht so, fragt sie sich und uns, warum das harmlos klingende Wort Grooming?
Doch der Wendung nicht genug. Das erklärt den bereitwillig vorangegangenen Blowjob der Beamtin. Auch sie hat ein sexuelles Begehr: lebendig begraben zu sein. Dabei soll er ihr helfen. Alice im Wunderland hat nicht nur sie dazu inspiriert, sondern auch Bühnenbildnerin Ágnes Hamvas: Die riesige Zeichnung eines Mädchens und eines Häschens ziert die Rückwand. Sie ist auch Projektionsfläche für das per Chat erpresste Treffen.
Das erstmals in Österreich zu sehende Stück des spanischen Dramatikers Paco Bezerra inszeniert Esther Muschol ohne Zerstreuungen. Kail und Strauss spielen mit direkten Ansagen. Ohne zu verharmlosen, versucht Grooming auch das Leid des Täters mit darzustellen. Rupert Derschmidt schafft dazu soundtechnisch ein latentes Bedrohungsgefühl.
Der Standard, 2.11.2017
Paco Bezerra über Grooming
Henry Havelock Ellis, geboren 1859, war ein britischer Sexualforscher. In seiner Autobiografie My Life erzählt er, dass seine Freunde sich oft über ihn lustig machten: Absurderweise galt er nicht nur als Sexualexperte, er war auch impotent. Allerdings nur bis zu seinem 60. Lebensjahr, als er herausfand, dass er eine Erektion bekam, wenn er einer Frau beim Urinieren zusah. Ellis nannte dieses sexuelle Interesse am Prozess des Urinierens Undinismus. Heutzutage heißt es Urolagnie und bezieht sich auf Personen, die nur Lust empfinden, wenn sie jemanden pinkeln sehen.
Nach der modernen Medizin wäre Henry Havelock Ellis wohl paraphil: eine Person, die nur durch etwas ganz Bestimmtes Lust empfindet. Es gibt über 100 verschiedene Paraphilien und laut DSM-5-Leitfaden, den die American Psychiatric Association herausgibt, handelt es sich um eine psychische Störung. Auch die Homosexualität stand seinerzeit auf dieser Liste (Personen, die nur mit gleichgeschlechtlichen Partnern Lust empfinden), bis es gelang, sie herauszuholen. Das heißt: Homosexualität war früher eine Krankheit und jetzt nicht mehr.
Ich kenne viele Menschen, die sich sexuell nur von dicken Menschen angezogen fühlen. Alle unter 100 Kilo finden sie ekelhaft, vor allem, wenn sie Bauchmuskeln haben. Und ich kenne auch viele Menschen, die Übergewichtige überhaupt nicht anziehend finden. Ich kenne viele Menschen, die sexuelle Lust ausschließlich für Menschen anderer Ethnien empfinden, und ich kenne Menschen, die nichts mögen, was ihnen nicht gleicht. Ich kenne Leute, die an die Füße des Objekts ihrer Begierde denken müssen, um Lust zu empfinden und ich kenne auch viele andere, denen es genauso geht – nur mit den Zähnen, den Rippen, der Körperbehaarung oder mit Menschen, die doppelt oder dreimal so alt sind wie sie.
Womit sich die Frage stellt: Was wissen wir wirklich über den Menschen? Haben Paraphile wirklich eine krankhafte Sexualität oder schlichtweg wenig verbreitete Interessen? Will die Gesellschaft unser Sexualleben kontrollieren? Ist also normal, was geläufig ist? Oder ist das Geläufige vielleicht weder so geläufig noch so normal, wie wir denken? Wer verfügt über empirische Daten, die wissenschaftlich belegen, was ein gesundes und was ein pathologisches Sexualverhalten ist? Wovon hängt das ab? Von der Anzahl der Individuen, die „darunter leiden“? Psychische Krankheiten oder Verhaltensweisen einer Minderheit, die in dem Maße von der Gesellschaft akzeptiert werden, wie die Mehrheit sie sich zu eigen macht? Was ist die Norm? Die sexuelle Norm, meine ich. Die der Mehrheit? Und wer legt sie fest? Auch die Mehrheit? Heißt das, wer nicht ist wie die Mehrheit, ist krank? Was ist dann Pornographie? Oder besser gesagt: Wie viele Arten von Pornographie gibt es? Liegt die Pornographie in dem, was gezeigt wird oder im Auge des Betrachters? Und was ist mit dem letzten Tabu: der Sexualität Minderjähriger? So viele Fragen und so wenig Antworten. Perfekt! Besser geht es nicht!
Der chilenische Dramatiker und Psychiater Marc Antonio de La Parra sagt: “Sobald man zu etwas eine feste Meinung hat, kann man kaum noch [Theater] schreiben. Reportagen, einen Essay, einen Zeitungsartikel ja. Aber kein Theater. Man träumt nicht von dem, was man weiß, sondern von dem, was man begehrt und/oder fürchtet. Theater ist Forschungsarbeit über das, was man nicht weiß oder nicht sagt. [...] Man kann nur über Dinge schreiben, die man bezweifelt.”
© Paco Bezerra
aus dem Spanischen von Franziska Muche