Der Weg zurück
- von Dennis Kelly
Deutsch von John Birke - Theater Drachengasse
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29. April – 25. Mai 2024, Di-Sa um 20 Uhr
keine Vorstellung am 30. April, 8., 9., 18. und 21. Mai 2024
Eine neue Bewegung ist entstanden – die Regression. Ihre Unterstützer stürmen Universitäten, Labore, Biotech-Firmen und setzen TV-Studios in Brand, sie entführen und ermorden Wirtschaftsbosse und andere Eliten. Die Wut der Regressionisten entlädt sich auf die alten Institutionen. Denn Fortschritt, Technologie und Wissenschaft haben in ihren Augen die Menschheit an den Rand des Abgrunds geführt, politische und soziale Ungleichheit verstärkt und die Umwelt zerstört. Von Generation zu Generation versucht die Bewegung, die Fortschritte der Menschheit rückgängig zu machen. Zurück zum Ursprung quasi. Aber ist das tatsächlich die Lösung für all unsere Probleme? Zurück zum Nichtwissen?
In Kellys Stück prallen Konzepte wie Aufklärung und Romantik, Rationalismus und Esoterik, Wissenschaft und Glauben aufeinander. Ein alter Kampf wird in Familien- und Liebesgeschichten über fünf Generationen verpackt. Mit satirischer Zuspitzung legt der britische Dramatiker den Finger auf offene Wunden und trifft mitten ins Herz unserer verwirrend komplexen Gegenwart.
Nach der deutschsprachigen Erstaufführung von Schutt im Vestibül des Burgtheaters 2004 inszeniert Sandra Schüddekopf zum zweiten Mal einen Text von Dennis Kelly.
Regie: Sandra Schüddekopf
Bühne, Kostüme: Sophie Baumgartner
Musik: Rupert Derschmidt
Regieassistenz: Hannah Zauner
Es spielen: Alicia Peckelsen, Karoline-Anni Reingraber, Lukas David Schmidt, Sebastian Thiers
Rechte bei Rowohlt Theater Verlag, Hamburg
Für die Bereitstellung der Locations für das Fotoshooting danken wir den Firmen Herzer und Vielfalt Mader.
Dauer: 2 Stunden
Theater Drachengasse setzt mit „Der Weg zurück“ auf Dystopie
Dennis Kellys Gedankenexperiment über die Rückabwicklung des Fortschritts
Wohin würde es führen, wenn wir Wissenschaft und Technik abschwören und die gesellschaftlichen Errungenschaften seit der Aufklärung in die Tonne treten? Diesem Gedankenexperiment hat sich der britische Autor Dennis Kelly in seinem 2021 am Berliner Ensemble uraufgeführten Stück „Der Weg zurück“ verschrieben. Im Theater Drachengasse hat Sandra Schüddekopf den Stoff nun eindringlich in Szene gesetzt und dem Publikum am Freitagabend demonstriert: Das Szenario geht nicht gut aus.
Es ist eine berührende Szene, wenn der junge Vater seine Tochter im Arm wiegt und seine Erzählung immer wieder mit den beruhigenden Worten „Du bist in Sicherheit“ unterbricht. Das ist schließlich ein Wunschdenken, denn er steht mit seinem via künstlicher Befruchtung entstandenen Nachwuchs alleine da. Die Mutter ist während der Geburt verblutet, der Grund ist ein teures, aber schief gegangenes Extra im Rahmen der IVF-Behandlung: das Anritzen der Gebärmutter, damit sich der Embryo besser einnisten kann. Der wissenschaftliche Fortschritt in der Reproduktionsmedizin wird so zu seinem ersten Feindbild, dem alsbald viele - unter anderem Handy-Strahlung und Mikrowellen - folgen werden.
Schnitt. Die Tochter ist erwachsen geworden und führt jene Bewegung fort, die ihr Vater damals begründet hat: Die „Regressionisten“ haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Rad der Zeit zurückzudrehen und jeglichem Fortschritt abzuschwören, wobei sie nicht davor zurückschrecken, Universitäten, Biotech-Labore oder TV-Sender in Brand zu setzen und die Eliten zu ermorden. Es ist ein langer, beschwerlicher Kampf, den schließlich auch noch ihre Zwillinge und deren Nachwuchs fortführen werden. So lange, bis nur mehr die Sprache übrig bleibt, die man so weit vereinfacht, bis nur mehr einsilbige Wörter erlaubt sind und eine sinnvolle Kommunikation unmöglich geworden ist.
In seinem Text setzt Kelly weniger auf Tiefe denn auf Plakativität, weniger auf Analyse denn auf Demonstration. Seine Figuren, die allesamt zur selben Familie gehören, folgen blind jenem Vorhaben, das sich der alleinerziehende Vater einst in den Kopf gesetzt hat. Das mag auf den ersten Blick oberflächlich wirken, korrespondiert jedoch durchaus mit gesellschaftlichen Entwicklungen der jüngsten Zeit, in der es oft nicht mehr so wichtig scheint, Zusammenhänge und Hintergründe verstehen zu wollen.
Im Theater Drachengasse sind mit Alicia Peckelsen, Karoline-Anni Reingraber, Lukas David Schmidt und Sebastian Thiers vier Schauspielerinnen und Schauspieler angetreten, diese inzestuöse Untergangsfamilie in wechselnden Rollen und mit viel Körpereinsatz in den Abgrund zu reiten. Im Zentrum der Bühne von Sophie Baumgartner steht ein halbrundes Podest, über dem eine Schlinge baumelt, an der sich die Spieler immer wieder wild durch die Luft wirbeln, wenn sie nicht gerade über zwei Feuerleitern in die Fenstervorsprünge klettern, um sich im Kampf gegen den Fortschritt zu verschanzen. Die stetige Steigerung ihres Wahns ist dabei fast mit Händen zu greifen und entwickelt im Laufe des zweistündigen, pausenlosen Abends eine erschreckende Sogwirkung.
Während András Dömötör das Geschehen bei der Österreichischen Erstaufführung am Schauspielhaus Graz im Herbst 2022 in einem überdimensionalen Chemiebaukasten spielen ließ, in dem die Vorgänge in der mit Spielzeug gefertigten neuen Miniaturwelt mit der Handkamera in den dunklen Bühnenraum übertragen wurden, setzt Schüddekopf auf helle Ausleuchtung der Charaktere, deren geistiger Verfall im Laufe ihrer Rückwärtsrevolution sicht- und spürbar wird. Am Ende, als jeglicher Entdeckergeist versiegt zu sein scheint, bringt ausgerechnet eine Lupe in der Sonne den Wendepunkt. Und den Drang, die Silbenanzahl der Wörter wieder anzuheben. Herzlicher Applaus für einen rasanten Abend, an dem das Lachen oft im Hals stecken bleibt.
APA, 30.04.2024
Exploring Ideologies and Human Experience
Theater Drachengasse, Vienna, 02.05.2024 [ENA]
Recently, I had the pleasure of discovering Theater Drachengasse, a vibrant hub of creativity nestled in the heart of the city's 1st district. Among the captivating productions staged at this esteemed venue, one particular play stood out to me – "Der Weg zurück" by Dennis Kelly. This thought-provoking theatrical experience invites audiences on a profound journey into the modern complexities.
It focused on modern society through the lens of a burgeoning movement known as Regression. Led by a cast of compelling characters grappling with their own beliefs and ideologies, "Der Weg zurück" delves deep into existential questions about progress, humanity, and the repercussions of our choices. Through masterful storytelling and nuanced performances, the play encourages introspection, challenging spectators to confront their assumptions and contemplate the intricacies of human existence.
What struck me most about "Der Weg zurück" was its adept exploration of contrasting ideologies and belief systems. Themes of enlightenment versus romanticism, rationalism versus esotericism, and science versus faith are interwoven with meticulous detail, creating a rich tapestry of ideas that resonate long after the final curtain. Under the skilled direction of Sandra Schüddekopf, Dennis Kelly's narrative is brought to life with added depth and nuance. Schüddekopf's clever use of humor deftly balances the play's weightier themes, enabling audiences to engage with the story on multiple levels without feeling overwhelmed.
Her direction offers a sharp critique of societal norms and the intricacies of human relationships, ensuring an unforgettable theatrical experience. Performed in Theater Drachengasse's intimate spaces, "Der Weg zurück" acquires new dimensions, enveloping audiences in a world of creativity and imagination. Whether seated in the cozy confines of the main theater or enjoying a more intimate performance in the Bar&Co, spectators are transported into the heart of the narrative, immersed in the energy and passion of the performers.
I wholeheartedly recommend experiencing "Der Weg zurück" at Theater Drachengasse firsthand. It promises a transformative journey that will leave a lasting impression, sparking meaningful conversations and reflections that resonate deeply with the complexities of contemporary life. The play's exploration of contrasting ideologies and its profound engagement with human experience make it a standout theatrical experience not to be missed. Immerse yourself in this thought-provoking production for an unforgettable encounter with themes that are both timeless and resonant in today's world.
european-news-agency.de, 02.05.2024
Hinweis: Die Vorstellung ist in deutscher Sprache.
Achtung, Strahlung – Baby in Schublade gepackt
Was, wenn alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über Bord geworfen werden würden? „Der Weg zurück“ von Dennis Kelly („The Regression“) im Theater Drachengasse (Wien).
Dick in einer Jacke eingepackt, erinnert der erste-auftretende Schauspieler (Sebastian Thiers) an die Uralt-Werbung eines Autoreifenherstellers. Die hier braunen Wülste verleihen Stoßdämpfer-Atmosphäre. Solche will der Typ auch dem Bündel in seinen Händen angedeihen lassen, dem Baby. Unzählige Male versucht er der neugeborenen Tochter Dawn (Morgendämmerung) und vor allem sich selber einzureden „Du bist in Sicherheit“, um es in einer Schublade abzulegen.
Sein Monolog in dem er von der schweren Geburt, dem Tod Dawns Mutter dabei, zwischen einem verdorrten Baum und einem spiralförmigen Aufgang (Bühne, Kostüme: Sophie Baumgartner) auf ein Podest, ist naheliegenderweise zunächst noch von der eben erlebten Tragödie, der Sorge um das neue Leben gekennzeichnet. Doch dann kommen Ratschläge einer Freundin der verstorbenen Ehefrau, die er am laufenden Band zitiert. Am sichersten wäre es, alle „Strahlungen“ zu unterbinden. Also kein WLAN, keine elektronischen Medien, ja gar keine Elektrizität. Und ganz sicher nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse der Medizin vertrauen.
Regression
Das ist die Ausgangsbasis für Dennis Kellys „The Regression“. Der englische Originaltitel trifft den Kern des Stücks weit genauer als die deutsche Übersetzung (John Birke) „Der Weg zurück“. Letzteres könnte viel mehr und anderes sein als das, worum sich das bitterbös-satirische Stück (nicht ganz zwei Stunden) dreht: Rückschritte. Mit der zunehmenden Verunsicherung durch Häufung von Krisen verbreiten sich populistische „einfache“ Erklärungsmuster und Skepsis gegenüber allem und jedem. Impfung? Nein, du wirst ge-chippt.
Spirale abwärts
Und so spielt sich im Stück – derzeit in einer Version im Wiener Theater Drachengasse zu erleben (Regie: Sandra Schüddekopf) – ein immer heftiger werdender Kreislauf, eine Spirale abwärts, vielmehr rückwärts ab. Neben dem schon Genannten spielen Alicia Peckelsen, Karoline-Anni Reingraber und Lukas David Schmidt die heftiger werdende Ablehnung von Wissenschaft, gründen aktionistische Gruppen, die vor Terror nicht zurückschrecken. Generation um Generation wird’s heftiger. Mit immer wieder witzigen Momenten, wo das Lachen fast gleichzeitig im Hals stecken bleibt. Und teils akrobatischen Auftritten aus ungewohnten Öffnungen der Bühnenwand.
Auf Dauer nicht zu unterdrücken
Bis in – ein wenig geht die Übersicht verloren, es könnten Dawns Urenkel sei, in einer Art märchenhafter Sequenz ein Kind die Neugier und Wissbegierde wieder entdeckt.
kijuku.at, 03.05.2024
Ein verstörender Abend im Theater Drachengasse
Wie friedlich, wie harmlos könnte eine Welt ohne Technologie sein. Keine Atombombe, keine Drohnen, kein Plastikmüll, kein Klimawandel. Der Dramatiker Dennis Kelly stellt sich in seinem Stück „Der Weg zurück“ eine solche Welt vor. In zwei kompakten Stunden führt Regisseurin Sandra Schüddekopf im Theater Drachengasse durch Kellys verstörendes, zwischen Utopie und Dystopie changierendes Szenario. Ausgangspunkt ist das Leid eines Mannes (sehr gut: Sebastian Thiers), der seine Frau bei der Geburt ihrer Tochter verloren hat. In einem rasanten Monolog mit extremer Sogwirkung erzählt er, wie es durch Hightech-Medizin zum Unglück gekommen ist. Er will sich vom 13. Stock eines Hotels stürzen. Doch im letzten Moment holt ihn der Schrei seiner Tochter zurück ins Leben und bringt ihn zur Erkenntnis, dass sich die Welt ändern muss.
„Wissen ist Qual“
Er gründet die Bewegung „Regression“. Deren Schlagwort ist: „Wissen ist Qual. Nichtwissen ein Segen!“ Wie im Zeitraffer führt Kelly in seinem flotten Text durch die Generationen, die unter dem Diktat dieser Bewegung leben und in die Barbarei getrieben werden. Durch dieses Stück weht ein Hauch von Aldous Huxely und George Orwell auf Sophie Baumgartners in hellem Orange gehaltener Bühne. Schüddekopf fordert ihr tolles Ensemble (Alicia Peckelsen, Karoline-Anni Reingraber, Lukas David Schmidt, Sebastian Thiers) auch akrobatisch, wenn sich diese wie Artistenmit einer von der Decke hängenden Schlinge immer wieder durch den Text schwingen müssen. Herzlicher Applaus für einen denkwürdigen Abend.
Kurier, 06.05.2024