Nicht unterkriegen lassen!
„Lampedusa“ im Theater Drachengasse: Sehr dichtes Stück über Menschen am Rande der Gesellschaft, die trotz alledem Hoffnung geben.
Der Bühnenboden ganz in weiß – Kies, Plastik- und Metallkanister, ein Korb, ein Kindersessel, und anderes „Strandgut“ - und damit schon optisch ein Gegensatz zum Vermuteten – Stücktitel ist immerhin „Lampedusa“ - und erst recht zum Erzählten. Zumindest dem meisten dessen. Wobei die süditalienische Insel nur ein Spielort ist, der andere ein britisches Kaff in einer der ärmsten Regionen der Brexit-Insel. Stefano hier, Denise dort, Fischer der eine, aktuell fast „nur“ Leichenfischer, Geldeintreiberin die andere, um damit ihr Studium finanzieren zu können. Der eine blickt ins Elend toter Körper, die von den zunichte gemachten Hoffnungen von Menschen zeugen, die vor Krieg oder auch „nur“ unvorstellbarem Elend flüchten wollten. Die andere von kaputten Existenzen in grindigen Häusern und Wohnungen und ihrer Härte, ihnen doch noch Geld abzupressen.
Dichtes Stück
Ein knapp mehr als einstündiges, sehr dichtes Stück über zwei erdige Typen des in London beheimateten Autors Anders Lustgarten, sehr echt, überzeugend, immer wieder auch sehr nahegehend von Michael Smulik und Claudia Kottal interpretiert, ohne je in Gefühlsduselei oder Moralinsäure abzugleiten, ja nicht einmal daran anzustreifen. Beide, Kottal als Denise noch mehr, immer wieder auch für humorvolle Momente. Fallweise schlüpfen beide auch noch in die Rollen der Gesprächspartner_innen der Hauptfiguren.
Trotz all der Tristesse, denen sich die beiden gegenüber sehen, verzweifeln sie nie ganz, kämpfen weiter – und kriegen Hoffnung durch zwei noch Hoffnungslosere. Stefano am Kaninchenstrand von Lampedusa durch Modivo, einen lebendig gestrandeten jungen Mann aus Mali. Erster Kontakt: In null komma nix repariert der junge Mann den kaputten Motor seines Bootes. Seine Freundlich- und Fröhlichkeit geht Stefano zunächst auf die Nerven, schließlich freundet er sich doch an, kriegt mit, dass Modivo auf die Ankunft seiner Frau Aminata in einem weiteren dieser überfüllten Boote wartet, fährt trotz aufkommenden Unwetters hinaus aufs Meer, trifft wieder auf Dutzende Tote, aber eine Handvoll Überlebender, darunter.... - genau.
Trotz alledem...
Denise wiederum trifft bei ihren Geldeintreiberin auf Caroline und ihren kleinen Sohn Jaden von deren Offenheit und Freundlichkeit sogar sie sich in ihrem abgrundtiefen Wickel mit ihrer Mutter trotz Abwehrhaltung anstecken lässt. Dieser jungen Alleinerzieherin letztlich doch eine Verschnaufpause bei der Rückzahlung ihres Kredites zu gewähren, erfüllt sie selbst (wieder) mit mehr Lebensfreude bis hin zum Satz: „Ich weiß gar nicht genau, was frei sein bedeutet, und wo man dieses Freisein eigentlich findet, aber da will ich hin und niemand wird mich aufhalten.“
Auf der anderen Insel, der, die dem Stück dem Namen gab, lässt uns der Fischer bzw. dessen Darsteller natürlich, den glückseligen, ausgelassenen Moment der Begegnung von Modivo und Aminate sehr plastisch erleben.
Funken Hoffnung
Nicht nur Denise und Stefano schöpfen Hoffnung, gewinnen Lebensfreude – ihr Helfen hat nicht nur den anderen geholfen, sondern auch ihnen selbst. Und es zeigt ganz ohne Zeigefinger anhand konkreter Lebensgeschichten: Auch wenn alles rundum sch... wirkt und auch weitgehend ist, es lohnt sich was dagegen zu tun, wenigstens kann einigen Menschen geholfen werden. Darüberhinaus zeigt das Stück aber auch – wie schon Anders Lustgartens erstes, preisgekröntes „If you don't let aus dream, we won't let you sleep“, dass es aber zusätzlich mehr braucht: Die Verhältnisse sind so, dass über die Hilfe im Einzelfall, diese selbst nicht so bleiben soll(t)en.
kurier.at, 03.11.2016
Die Gesichter ertrunkener Flüchtlinge
„Lampedusa“ im Theater Drachengasse.
Von der Einsamkeit zum Weltekel ist es nicht weit. Auch nicht auf der Bühne des Theaters Drachengasse: Sie erinnert an die wilde Romantik eines Kiesstrands genauso wie an die Trostlosigkeit einer Schottergrube. Weiß gestrichener Hausrat liegt herum, und die Überreste eines Schiffbruchs: ein Kanister, eine Holzkiste. Alles erzählt vom Verlassen und Verlassenwerden, von aufgegebener Hoffnung, vom Scheitern.
Dabei gehören die Protagonisten des Stücks gar nicht zu den Ärmsten. Eher verdienen sie mit den Ärmsten ihr Brot: Er (Michael Smulik als verbitterter Schwadroneur) fischt für die Küstenwache ertrunkene Flüchtlinge aus dem Meer vor Lampedusa, sie (Claudia Kottal als toughe Einzelgängerin) treibt für eine Kurzkreditfirma in London Schulden ein. Er war lange arbeitslos, ist politisch frustriert und mit dem Leid, dessen Zeuge er wird, überfordert, sie kämpft mit einer kranken Mutter und mit Rassismus aufgrund ihres Migrationshintergrunds. Beide ziehen sie sich in Zynismus und Groll auf die Gesellschaft zurück. Er, indem er sich von den Leichen entfremdet, die so „glitschig sind wie ölige Müllsäcke“. Sie, indem sie versucht, keine Gefühle mehr zuzulassen.
Mitmenschlichkeit hilft
Der Titel kann irreführen: Viel mehr als um die Flüchtlinge, die nach Europa kommen, geht es um die, die schon da sind, um ihren Frust, ihre Wut, ihre Angst. Was hilft? Mitmenschlichkeit, so die Antwort des britischen Dramatikers Anders Lustgarten: Er arbeitet die Notwendigkeit sozialer Beziehungen heraus, indem er zwei Leute, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, aber vieles gemeinsam, abwechselnd erzählen lässt.
In Hans-Peter Kellners ruhiger Inszenierung offenbaren sich allmählich Parallelen, beide treffen auf Menschen, die ihnen eine neue Sicht erlauben. Auf dem emotionalen Höhepunkt erzählt der Küstenwächter von einem Einsatz auf stürmischer See: Hinter den Wellen ist ein sinkendes Schiff zu erkennen, doch „der Sturm hält uns auf Armlänge“. Als er dann die ersten Leichen an Bord zieht, sieht er auf jeder das Gesicht eines befreundeten Flüchtlings.
Den Toten hilft das nicht. Aber vielleicht den Lebenden. Am Ende stimmt „Lampedusa“ optimistisch.
Die Presse, 4.11.2016
Die Leichen müssen raus, die Schulden müssen rein
Zwei sehr heutige europäische Geschichten: Stefano zieht bei Lampedusa Leichen aus dem Meer, die nichtweiße Engländerin Denise treibt Schulden ein und pflegt ihre Mutter. Beide freunden sich in der jeweiligen Heimat mit Immigranten an. Anders Lustgarten verzahnt in seinem Stück "Lampedusa" ihre narrativen Monologe, ohne die Stränge je zusammenzuführen. Das ist für Zuhörer etwas frustrierend, obwohl die assoziative Brücke zwischen den hoffnungsvollen Geschichten einleuchtet: der immer wieder überraschende Drang des Menschen zu sozialen Beziehungen. Lohnend macht die österreichische Erstaufführung in Hans-Peter Kellners behutsamer Inszenierung - an einem Kisstrand graben die Protagonisten beim Sprechen vermeintliches Treibgut aus - das Spiel von Michael Smulik und Claudia Kottal: empathisch, unaufgeregt, wienerisch.
Falter, 9.11.2016
Anders Lustgarten über Lampedusa
Wir sind allein.
Zumindest fühlt es sich für viele Menschen im Westen derzeit so an.
Die Gründe für diese Einsamkeit sind zahlreich. Wir haben keine Kontrolle über essentielle Bereiche unseres Lebens. Eine winzige Elite von unerträglichen Ärschen hat für ihre Zwecke Macht und Vermögen in einer unvergleichlichen Weise, wie es sie seit dem Babylonischen Imperium nicht mehr gegeben hat, angehäuft. Unsere besser bezahlten Jobs werden meistens vor einem Bildschirm zugebracht, und die schlechteren sind entbehrlich und sinnlos. Unsere Interaktionen mit anderen finden in wütenden, abstrakten Social Media statt, während wir uns in überfüllte U-Bahnen drängen. Wir sind im Konkurrenzkampf mit immer mehr Menschen um immer weniger Ressourcen. Ein zügellos ausbeutender Kapitalismus hat unsere Erfahrung verkauft, und in seinem Gefolge erscheint eine grobe rechte Demagogie, die Immigranten und arme Menschen für unsere Verwirrung und unsere Entfremdung verantwortlich macht.
Wir versuchen dagegenzuhalten und uns zu wehren, aber wo ist der feste Grund auf dem wir stehen können?
Wir versuchen zu schreien, aber jeder Idiot schreit bereits, und niemand hört zu.
Die Grausamen und die Wütenden und die widerlich Reichen sind die Einzigen, die Gewissheit und Sicherheit zu haben scheinen.
Also, was tun wir?
Entweder wir verkriechen uns – in übertriebenen Konsum, in „Spiritualität und Achtsamkeit, juhu”, hinter hohe Mauern und Stacheldraht. Ein Rückzug, der mit Sicherheit nicht die Grundursachen unserer Unzufriedenheit lösen kann.
Oder wir strecken unsere Hand aus.
Lampedusa ist ein Stück über die Möglichkeit, die Notwendigkeit, von menschlichen Beziehungen. Über die Kraft und das Potential der Veränderung, die mit ihnen einhergehen. Und vor allem über die Hoffnung, die das Handeln und das Verbunden sein mit sich bringen.
Versteht mich nicht falsch, das ist sicher nicht die Antwort auf alle Fragen. Eine bessere Gesellschaft bedarf des völligen Herausreißens dieses entfremdenden, diebischen, unmöglich brutalen sozialen und ökonomischen Systems, das uns aufgezwungen wird, und dessen Befürworter uns alles Erdenkliche antun werden, um es beizubehalten.
Jedoch der größte Trick, den dieses System aufbietet, ist, jeden von uns in unsere eigene, kleine, einsame Zelle zu isolieren, und alle anderen als eine Bedrohung und eine Gefahr aussehen zu lassen, besonders jene, die aus Übersee durch die Auswirkungen dieses Systems an unsere Küsten getrieben werden. Wenn wir dieser Trennung und diesem System nachgeben, sind wir verloren.
Menschen ändern ihre Meinung selten durch intellektuelle Appelle. Sie ändern ihre Meinung durch emotionale Erfahrung und den Beziehungen zu anderen Menschen. Dort ist es, wo wir ansetzen.
Übersetzung: Martina Theissl